...und völlig uneigennützig sein und werden den Sinn der Worte verstehen und ihn in ihrem freien, schönen Leben verwirklichen. Die Menschen werden nicht egoistisch sein, wie sie es heute sind. Denn Egoist ist, wer an andere Ansprüche stellt, und der Individualist wird das nicht tun wollen. Es wird ihm kein Vergnügen machen. Wenn der Mensch den Individualismus verwirklicht hat, wird er auch das Mitgefühl verwirklichen und es frei und ungehemmt walten lassen. Bis jetzt hat der Mensch das Mitgefühl überhaupt kaum geübt. Er hat bloß Mitgefühl mit Leiden, und das ist nicht die höchste Form des Mitgefühls. Jedes Mitgefühl ist schön, aber Mitleid ist die niedrigste Form. Es ist mit Egoismus durchsetzt. Es kann leicht krankhaft werden. Es liegt in ihm ein gewisses Element der Angst um unsere eigene Sicherheit. Wir fürchten, wir selbst könnten so werden wie der Aussätzige oder der Blinde und es kümmerte sich dann niemand um uns. Es ist auch seltsam beschränkt. Man sollte mit der Ganzheit des Lebens mitfühlen, nicht bloß mit den Wunden und Krankheiten des Lebens, sondern mit der Freude und Schönheit und Kraft und Gesundheit und Freiheit des Lebens. Je umfassender das Mitgefühl ist, um so schwerer ist es natürlich. Es erfordert mehr Uneigennützigkeit. Jeder kann die Leiden eines Freundes mitfühlen, aber es erfordert eine sehr vornehme Natur - es erfor dert eben ...
...wenn er auf eine Art lebt, die ihn für die volle Verwirklichung seiner eigenen Persönlichkeit die geeignetste dünkt; wenn tatsächlich das erste Ziel seines Lebens die Entwicklung seines Selbst ist. Aber das ist dieArt, wie jedermann leben sollte. Selbstsucht heißt nicht: so leben, wie man zu leben wünscht; sie heißt: von anderen verlangen, so zu leben, wie man zu leben wünscht. Und Uneigennützigkeit heißt: andrer Menschen Leben in Ruhe lassen, sich nicht hineinmischen. Die Selbstsucht strebt immer danach, um sich herum eine absolute Gleichförmigkeit des Typus zu erzeugen. Die Uneigennützigkeit erblickt in einer unendlichen Mannigfaltigkeit des Typus ein köstliches Ding, akzeptiert sie, beruhigt sich dabei und freut sich darüber. Es ist nicht selbstsüchtig, auf seine Art zu denken. Wer nicht auf seine Art denkt, denkt überhaupt nicht. Es ist grobe Selbstsucht, von seinem Mitmenschen zu verlangen, er solle auf dieselbe Art denken und dieselben Ansichten haben. Warum sollte er? Wenn er denken kann, wird er wahrscheinlich anders denken. Wenn er nicht denken kann, ist es ungeheuerlich, irgendwelche Gedanken von ihm zu verlangen. Eine rote Rose ist nicht selbstsüchtig, weil sie eine rote Rose sein will. Sie wäre furchtbar selbstsüchtig, wenn sie verlangte, alle andern Blumen im Garten sollten rot und Rosen sein. Im Reiche des Individualismus werden die Menschen ganz natürlich...
Der Individualismus wird ferner uneigennützig und ungeziert sein. Es ist schon gesagt worden, daß es eine Folge der außergewöhnlichen Ty rannei der Autorität ist, daß der eigentliche und einfache Sinn der Worte völlig verdreht wird und daß sie dazu benutzt werden, das Gegenteil ihrer wahren Bedeutung auszudrücken. Was von der Kunst gilt, trifft ebenso auf das Leben zu. Ein Mann wird heutzutage geziert genannt, wenn er sich kleidet, wie es ihm gefällt, sich zu kleiden. Aber wenn er das tut, handelt er völlig natürlich. Geziertheit in diesen Dingen ist, wenn einer sich in seiner Kleidung nach den Ansichten seiner Mitmenschen richtet, die, da sie die Ansichten der Mehrheit sind, wahrscheinlich äußerst einfältig sind. Oder jemand wird selbstsüchtig genannt...
...Natur eines wahren Individualisten - den Erfolg eines Freundes mitzufühlen. In dem Gedränge der Konkurrenz und dem Ellbogenkampf unserer Zeit ist solches Mitgefühl natürlich selten und wird auch sehr erstickt durch das unmoralische Ideal der Gleichförmigkeit des Typus und der Fügsamkeit unter die Regel, das überall so sehr vorherrscht und vielleicht am schädlichsten in England ist.
'Der Sozialismus und die Seele des Menschen' (The Soul of Man under Socialism)
ist ein Essay von Oscar Wilde, der von ihm selbst als zukunftsweisend angesehen wurde.
Er erschien erstmals im Februar 1891 in 'The Fortnightly Review'.